Das eigene Leben wieder in die Hand nehmen
Beitrag von Doris Wagner bei den journées annuelles von AVREF, am 16. April 2016.
(Aus dem Englischen übersetzt)
Als ich „meine Gemeinschaft“ 2011 verließ, war ich
unmittelbar mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Ich musste mich
irgendwie finanzieren, irgendwo wohnen etc. Viel wichtiger war aber etwas
anderes: Ich stand vor der Herausforderung zu verstehen, was geschehen war.
Meine Verantwortlichen hatten sich doch um mich gekümmert, oder etwa nicht? Im
Werk bekam ich geistliche Begleitung, ein Zimmer und Verköstigung. Als ich
eintrat, wollte ich doch zu dieser Gemeinschaft gehören. Ich hatte eine
Berufung, oder nicht? Ich wollte mein Leben in den Dienst Gottes stellen. Was
war eigentlich schief gegangen?
Im Rückblick auf meine Zeit im „Werk“ gab es einen Moment,
in dem mir offensichtlich Unrecht geschehen war. 2008 hat ein Verantwortlicher
mich mehrmals vergewaltigt. Er kam in mein Zimmer, zog mich aus, obwohl ich ihm
sagte, dass er das nicht durfte und vergewaltigte mich, während ich vor Angst
wie gelähmt war. – Eine Vergewaltigung ist eine extrem schmerzliche Erfahrung:
Jemand setzt sich bewusst über deine Gefühle hinweg und übertritt deine
körperlichen und emotionalen Grenzen. Er drückt dir seinen Willen auf, dringt
in dich ein, während du völlig aufgelöst, apathisch und hilflos bist.
Als das geschah, war ich außer Stande zu begreifen, was vor
sich ging. Später hat mir diese traumatische Erfahrung auf seltsame Art
geholfen zu verstehen, was mir geschehen war, und zwar nicht nur in diesem
Moment, sondern die ganze Zeit. Im „Werk“ wurde nicht nur mein Körper
vergewaltigt, sondern auch mein Gefühlsleben, mein Intellekt, mein Glaube,
alles, was mich ausmachte und was ich war. Meine Verantwortlichen setzten sich
bewusst und andauernd über meine Grenzen hinweg und drangen in mein Denken,
mein Fühlen, meine Gottesbeziehung, in die intimsten Schichten meines Selbst
ein.
Ich erinnere mich an viele Momente, in denen das deutlich
wurde. Zum Beispiel kam meine Verantwortliche in den ersten Monaten nach meinem
Eintritt mit einem Vorwurf auf mich zu: Ich hatte in letzter Zeit öfter ein
trauriges Gesicht. Seltsamerweise hatte ich selbst nichts davon gemerkt, dass ich traurig war. Aber es kümmerte sie nicht, was ich fühlte. Sie
wollte nur, dass ich ein Lächeln aufsetzte. Wichtig war nicht, was ich fühlte,
sondern dass ich glücklich aussah und dass ich dachte, ich wäre glücklich. Ich
konnte auch gar nichts anderes denken, weil wir ständig zu hören bekamen, was
für ein Glück es doch wäre, im „Werk“ zu sein. Die Folge war, dass ich nur noch
mit einem Lächeln auf dem Gesicht herumlief. Ich lächelte, auch noch am Morgen
nach der ersten Vergewaltigung. Ich lächelte auch noch nach meinem Austritt. Es
dauerte, bevor ich in der Lage war, diese Grimasse abzustreifen – und noch
heute wird mir schlecht, wenn ich Leute mit diesem Dauerlächeln im Gesicht zu
sehen bekomme.
Meine Verantwortlichen sprachen viel über Jungfräulichkeit,
über Jungfräulichkeit des Herzens und Jungfräulichkeit des Geistes. Man sagte
mir, ein ohne Erlaubnis gelesenes Buch wäre wie ein unehelich empfangenes Kind.
Gleichzeitig bombardierten sie uns förmlich mit Worten und Texten von „Mutter
Julia“. Es gab keinen einzigen Tag, es gab kaum eine Stunde, in der ich nicht
gezwungen war „Mutter Julia“ oder meinen Verantwortlichen zuzuhören. Sie nahmen
mir alles, was meine Individualität und persönliche Freiheit hätte stützen
können, um dann in mein Denken, Fühlen, Glauben und Handeln einzudringen.
Während sie vorgaben, meine geistige Jungfräulichkeit zu schützen, behandelten
sie mich in Wirklichkeit wie eine Prostituierte, der sie sich aufzwangen, wie
es ihnen gerade beliebte.
Wenn man ein solches Missbrauchssystem verlässt, steht man vor einer gewaltigen Herausforderung. Als ich die
Gemeinschaft verließ, war ich immer noch so sehr in den Gewohnheiten und Zwängen
des Gemeinschaftslebens, in meiner Rolle als dauerlächelnde, arbeitende und
betende Schwester gefangen, dass ich erst einmal praktisch genauso weiterlebte,
obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte.
Die meisten Menschen mit Missbrauchserfahrungen neigen dazu,
sich die Rolle zu eigen zu machen, die ihnen die Leute, die sie missbraucht
haben, aufgedrängt haben. Sie fühlen sich wertlos, haben keine Selbstachtung,
kein Selbstvertrauen und sind nicht im Kontakt mit sich selbst und ihren
Gefühlen. Sie riskieren, sofort in die nächste Missbrauchssituation zu geraten.
Um den Teufelskreis zu durchbrechen, muss man sein eigenes Selbst
wiederentdecken, den eigenen Verstand, die eigenen Gefühle, die eigene
Gottesbeziehung, sogar den eigenen Körper. Sei vorsichtig, wenn du das tust,
höre genau hin auf deine innere Stimme, lass dir Zeit!
Einige von euch, die heute hier sind, stehen vielleicht vor
dieser Herausforderung. Ich möchte Folgendes zu euch sagen:
1.
Denke immer daran, dass du ein wunderbarer,
liebenswerter Mensch bist! Wiederhole diese Worte, sag zu dir selbst immer
wieder: Ich bin liebenswert!
2.
Zögere nicht eine Sekunde, den intellektuellen
und geistlichen Müll, mit dem man dich vollgestopft hat, aus deinem Denken und
deinem Herzen zu entfernen. Nicht eine Sekunde!
3.
Komm wieder in Tuchfühlung mit dir selbst.
Langsam. Schritt für Schritt. Trau dich, wieder selbst zu denken, selbst zu
beten, mit deinen eigenen Worten, und stell dich deinen Gefühlen. Trau dich zu
weinen, zu trauern, zu streiten, zu kämpfen, zu lachen, zu tanzen, und vor
allem: zu lieben!
Kurz: Nimm dein Leben wieder in
deine eigenen Hände. Dann – und nur dann – wirst du es auch in wieder in den
Dienst anderer stellen können.
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