Was will dieser Blog?

Dies ist der Blog ehemaliger Mitglieder des "Werkes". Er enthält Geschichten, Tatsachen und Erfahrungen, die vom "Werk" sorgfältig verschwiegen oder geleugnet werden. Er sei jedem ans Herz gelegt, der mit dem "Werk" in Kontakt kommt.

Schwester im Werk von 1967 bis 1974 - Schluss



Nach und nach beunruhigten mich diese Erfahrungen immer mehr. Ich fing an zu zweifeln. Immer wieder dachte ich auch, ich hätte Unrecht, und es wäre der Teufel, der versuchte, mich ins Wanken zu bringen. Es war mir nicht möglich, mit jemandem darüber zu sprechen. Mit wem denn? Mir wurde klar, dass alle Brücken abgebrochen waren. Würde ich mit meiner Verantwortlichen darüber sprechen, konnte ich mir ausrechnen, was mich erwartete. Und mit einem anderen Mitglied der Gemeinschaft zu sprechen, war noch viel riskanter. Ich merkte ja selbst, wie die ein oder andere ab und zu eine schwierige Phase durchmachte, und versuchte dann, so umsichtig wie möglich mit ihnen umzugehen. Ich wollte ihnen nicht noch mehr schaden... Einen Priester um Rat fragen? Das Werk sortierte alle Priester in zwei Gruppen: die „Guten“, die dem Werk wohlgesinnt waren und zum Teil eingeweiht wurden, und die „Schlechten“, die unbedingt gemieden werden mussten. Außerdem erkannte ich, dass ein Außenstehender das Problem nicht begreifen können würde. Nach und nach realisierte ich, dass ich gefangen war. Ich war verzweifelt. Es gab keinen Ausweg. Ich bräuchte ein vielfaches meiner Kraft: erstens, um meine Aufgaben im Werk weiter wahrzunehmen (und meine Aufgaben als Verantwortliche entsprachen mehr als einer Vollzeit-Stelle), außerdem brauchte ich genug Kraft, um ganz allein mit meinen Zweifeln fertig zu werden, so unerträglich sie werden konnten, und schließlich brauchte ich sehr viel Kraft, um mein „Doppelleben“ durchzuhalten. Ich wusste, dass nichts davon bemerkt werden durfte.



Heute, wo ich weit weg vom Werk bin, ist mir klar, dass es durchaus andere Wege und Möglichkeiten gegeben hätte, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Was ich erfahren habe, war das Resultat von Manipulation, ja von Gehirnwäsche: Man kann beim besten Willen nicht mehr normal denken; der Blick auf die Realität ist durch die jahrelange Beeinflussung völlig getrübt. Er ist von Angst geprägt, die als subtiler Faktor alles mitbestimmt. Mir ist klar geworden, wie sehr Sektenmitglieder mit den Schritten zu kämpfen haben, die sie gehen müssen und bei denen ihnen niemand helfen kann. Auch Selbstmordversuche von Menschen in Sekten oder in religiösen Bewegungen mit sektenähnlichen Praktiken wundern mich nicht. Ich selbst spielte oft mit dem Gedanken in dieser Zeit von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit.


Es war August 1974. Da geschah etwas, was so gut wie nie geschah: Mikle Strolz sagte, dass ich eine Woche lang allein in Innsbruck bleiben sollte. Das Werk war emsig mit der Vorbereitung eines Newman-Kongresses in Rom beschäftigt. Die Kontaktadresse für evtl. freiwillige Mithelfer war damals Innsbruck. Ich sollte also da bleiben, um diese Personen aufzunehmen. Damals dachte ich: Das ist die Chance! Ich muss hier weg! Wenn ich es jetzt nicht tue, dann gelingt es nie mehr und dann drehe ich endgültig durch. Was sich damals abspielte ist unmöglich zu beschreiben. Völlig verzweifelt suchte ich Kontakt zu meinen Brüdern. Ich musste eine Telefonnummer finden. Wie macht man das, wenn man sieben Jahre lang nichts mehr voneinander gehört hat? Wahrscheinlich waren sie inzwischen verheiratet, hatten Kinder. Würden sie bereit sein, mir zu helfen? Was sollte ich tun? Nein, besser keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen. Besser, ich suche mir eine Arbeitsstelle irgendwo in Österreich oder Norditalien. Aber ich besaß ja nichts. Ich kannte niemanden. Doch die Telefonnummer suchen? Als ich über die Auskunft eine Nummer bekommen hatte, hörte ich völlig unerwartet, die Stimme meiner Mutter am anderen Ende der Leitung. Ich kann nicht ausdrücken, was da in mir vorging. Mit einem Mal fiel alles von mir ab. Darf ich zurückkommen? Geht das noch? Was würde meine Mutter sagen? Ja, ich durfte zurückkommen, unter der Bedingung, dass ich das Werk definitiv verlassen würde. Da kam die Angst zurück. Ich beschwor meine Mutter, dass sie absolut niemandem sagen durfte, dass ich sie angerufen hatte. Ich konnte ihr nicht erklären, wie das Kontrollsystem des Werkes funktionierte. Ich konnte ihr nicht erklären, dass es in ihrer unmittelbaren Umgebung Priester gab, zu denen sie zwar Vertrauen hatte, die aber das Werk unterstützten. Ich wollte noch drei Tage in Innsbruck bleiben, denn ich fühlte mich dem Werk gegenüber nach wie vor zur Loyalität verpflichtet. Ich wollte meine Aufgaben für den Newman-Kongress erst zu Ende bringen. Die drei Tage wurden mir zur Hölle. Mir kamen Zweifel. Ich wollte doch nicht flüchten. Und ich konnte oder durfte niemandem etwas sagen. Ich hatte Albträume. Was hatte ich getan? Ich hatte das Werk verraten! Nein, nein, ich hatte richtig gehandelt. Ich würde das Auto nehmen und damit nach Berchtesgaden fahren. Von dort wollte ich alle Dokumente mitnehmen, die ich im Lauf der Jahre unterschrieben hatte, damit das Werk mich damit nicht belangen konnte. Es schoss mir durch den Kopf, dass ein normales Mitglied, diese Möglichkeit nicht hatte. Aber ich mit meiner Stellung im Werk konnte alle meine persönlichen Dokumente, meine Zeugnisse usw. mitnehmen.


Als ich wieder in Innsbruck war, kamen die Zweifel wieder. Die Angst. Aber ich konnte nicht mehr zurück. Ich schloss die Buchhaltung gewissenhaft ab. Ich wusste, dass sie mich den anderen Mitgliedern gegenüber als gewissenlose Person hinstellen würden, die mit viel Geld abgehauen war. Dieses Lied hatte ich ja früher schon gehört. Ich nahm keinen Pfennig mehr mit als das Zugticket kostete. Damit niemand mich sehen würde, beschloss ich den Nachtzug zu nehmen. Als ich ging, konnte ich die Hausschlüssel nicht zurücklassen, falls etwas geschehen würde, was mich zum Umkehren zwingen könnte. Als der Zug schon eine weite Strecke in Deutschland zurückgelegt hatte, warf ich die Schlüssel aus dem Fenster. Ich traute mich nicht geradewegs den Zug nach Brüssel zu nehmen. Vielleicht hatten sie meine Flucht bemerkt und erwarteten mich auf einem der Bahnhöfe auf dem Weg? Nach einem großen Umweg durch Deutschland und die Niederlande kam ich schließlich in Belgien an.


So kam ich wieder nach Hause. Trotz dem heftigen Streit vor sieben Jahren hießen sie mich willkommen. Das war meine Rettung. Die Türen standen wieder weit offen. Sie nahmen mich auf ohne Fragen zu stellen. Sie spürten, dass ich in diesem Moment keine Fragen beantworten und nichts erklären konnte. Sie haben mir die Zeit gegeben, die ich brauchte, um diese Erfahrung zu verarbeiten. Sie haben mir die Chance gegeben, alles wieder ins Lot zu bringen. Es waren ungefähr zwei Jahre, die nötig waren, um mich von den schrecklichen Folgen meiner Erfahrungen im Werk zu lösen. Es wundert mich nicht, dass es Menschen gibt, die ihr ganzes Leben lang von solchen Erfahrungen gezeichnet sind. Wie muss es erst Menschen ergehen, die nach mehr als zwanzig Jahren vom Werk „aussortiert“ oder rausgeworfen werden? Wie verarbeiten es Mitglieder, die nach vielen Jahren im Werk zur Ernüchterung kommen? Was tun sie, wenn ihre Eltern, Geschwister oder Bekannten von früher nicht mehr da sind oder nicht bereit, ihnen zu helfen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen