Dieser Text ist eine innerhalb des Werkes gut bekannte von Verhaeghe verfasste Betrachtung über das Leiden Jesu, in der sie darauf abzielt die moderne Gesellschaftsordnung als gottlos darzustellen.
Nachdem sie zunächst festhält, dass Jesu Lebensstil Widerspruch in seiner Zeit erfuhr, und damit implizit sagt, dass nur diejenigen, die auch in unserer Zeit Widerspruch erfahren (wie sie und das Werk) authentische Nachfolger Jesu sind, bemüht sie sich verschiedene "Geisteshaltungen" auszumachen, die zur Verurteilung Jesu geführt haben und die heute wie in allen Zeiten existieren. Dazu gehören Hochmut, Eigenliebe, Selbstsucht etc. Untugenden, die für Verhaeghe eine große Rolle spielen, weil sie sich ihrer Meinung nach in der Kirche ausgebreitet haben, in der kaum noch jemand auf die Gesetze Gottes hören will, Untugenden, die sie darum den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft mit Stumpf und Stiel aus dem Herzen reißen will. Zu den "Haltungen", die zur Verurteilung Jesu geführt haben, gehören aber auch menschliche Kooperation, (säkulares) staatliches Recht, öffentliche Meinung und demokratische Normen.
In diesem Text sagt Verhaeghe sehr vieles indirekt, was sie direkt nur in Texten ausdrückt, die so streng unter Verschluss gehalten werden, dass man praktisch nicht an sie herankommt.
Die Lehre und der Lebensstil des Meisters hatten einen Inhalt, der vielen – vor allem jenen, die eine hohe Stellung innehatten – eine Anklage war; und dies wegen der Forderungen, die im Gegensatz zu ihrer Mentalität in ihrem Denken und Handeln standen. Das war das große Ärgernis, das die Gefangennahme und den Verlauf des Prozesses Jesu kennzeichnen sollte.
Verschiedene Tatsachen, Ausdrucks- und Handlungsweisen widerspiegeln den Geist, oder besser: die Geisteshaltung, in der der Prozess gegen den Herrn Jesus verlaufen sollte, der zu seinem Tod führte.
Hochmut, Eigenliebe, Selbstsucht, Eitelkeit und Oberflächlichkeit sind die Grundzüge und vorherrschenden Elemente, die menschliches Verständnis und den Sinn für Verantwortung im Menschen in allen Ständen und Gesellschaftsschichten verdunkeln und untergraben, sowohl zur Zeit Jesu als auch in unseren Tagen. Nur die Ausdrucksformen haben sich den Normen der Zeit angepasst, die Grundzüge und wesentlichen Haltungen sind dieselben geblieben: das Wuchern der Neigungen und Wurzeln der Erbsünde im Menschen, die ihn zum Gemeinen, zur Vernichtung und in den Tod treiben…
Dies trifft auch auf das Volk Gottes zu, das sich weigert, Gott, seine Lebensgesetze und seine Gebote anzuerkennen und Ihm zu dienen, denn auch dieses (abtrünnige) Volk will seine ichgerichtete Mentalität und seine sündigen Neigungen nicht ablegen.
Eine kleine Schar folgte ihm damals … und heute? Hat sich dieses Gottesvolk geändert? Ist diese kleine Herde in der Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte größer geworden? Wie steht es mit jenen, die berufen sind, ihm auf dem Weg der Bekehrung und Versöhnung enger nachzufolgen, mit jenen, die auserwählt sind, mit ihm das lebensspendende Kreuz der Erlösung zu tragen und seinen Mystischen Leib, die Kirche, zu bilden?
Die Ereignisse in unseren Tagen und die Zeichen der Zeit geben uns eine überdeutliche Antwort …, sofern wir Ohren haben zu hören, Augen zu sehen, einen Mund um zu sprechen, Hände zum Handeln und Füße, um dem Meister auf dem Weg zu folgen, auf dem Er uns vorangegangen ist, damit wir im Glauben seine Gegenwart erkennen und bereit seien, ihm zu dienen.
Folgen wir nun der Gefangennahme unseres Herrn Jesus und dem Verlauf seines Prozesses:
Einer der Zwölf – einer seiner engsten Mitarbeiter – geht hin, um mit den Hohenpriestern und dem Hohen Rat zu verhandeln, um mit ihnen eine Übereinkunft zu treffen, wie er ihnen Jesus, seinen Meister, ausliefern könnte, … und sie freuten sich über das Angebot des Jüngers. Sie vereinbarten, ihm Geld zu geben, und sicherten Ihm ihre Unterstützung zu. Unter diesen Bedingungen schlossen sie gemeinsam ihren Kompromiss. Von da an waren beide Seiten eifrig am Werk: Der Jünger, der Mitarbeiter des Herrn, suchte die günstigste Gelegenheit, ihn so unauffällig wie möglich, ohne Volksauflauf, ihren Händen auszuliefern. Die andere Partei bemühte sich unterdessen darum, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Von diesem Zeitpunkt an sind alle Mittel gut und gerechtfertigt:
- Der Kuss, das Zeichen der Freundschaft, wird zum Zeichen des Verrates;
- Pilatus und Herodes, die zuvor miteinander verfeindet waren, söhnen sich aus;
- Die gesetzliche Autorität wird anerkannt; Kollegialität und Brüderlichkeit werden formell geübt;
- Gesetzliche Anschuldigungen und Anklagen werden vorgebracht: er wiegelt das Volk gegen das Gesetz auf; er erkennt die Autorität nicht an; Er lästert Gott!
- Als Folge der Beeinflussung der öffentlichen Meinung verlangt das Volk aufgrund der zahlreichen Anschuldigungen, die gegen Jesus vorgebracht worden sind, seine Verurteilung zum Tode.
- Nach demokratischen Normen stellt die gesetzliche Autorität das Volk vor die Wahl zwischen Jesus und Barabbas, einem bekannten Verbrecher.
- Obwohl das Verhör die Unschuld Jesu herausstellt, wir die Strafe der Geißelung über ihn verhängt.
- Pilatus, der Richter, der von seiner Frau noch gewarnt wird, bestätigt siebenmal, dass er keine Schuld an Jesus finde; doch Verleumdung, Kritik, falsche Beschuldigungen, üble Nachrede, Verdächtigungen, usw. …kurz: die Sünde … haben ihr Werk vollbracht. Pilatus und das Volk sind im Netz der Interpretationen und Manipulationen derer gefangen, die sich im Interesse am Tod Jesu verbündet haben. Mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe zum Mitmenschen ist es bei den Anführern vorbei. Aufgehetzt durch ihre Verblendung und ihren Hass, vollziehen die Richter und das Volk den Gottesmord.
Sie ließen das Grab Jesu versiegeln und bewachen. Nach der erwiesenen Auferstehung des Herrn bestachen sie die Wächter erneut, damit diese ein falsches Zeugnis ablegten. Ohne eine Mahnung oder einen Tadel befürchten zu müssen, konnten sie berichten, was sie gesehen hatten, während sie schliefen. Ja, sie konnten sagen, sie hätten ihren Auftrag gemeinsam so gut erfüllt, dass sie gerade dann alle zusammen schliefen, als die Jünger kamen, den Leichnam zu stehlen.
Für alle Komplizen im Prozess Jesu
- Bedurfte es keiner Berichtigung;
- Gab es kein Gesetz, nach dem sie ihre Tat zu verantworten hatten;
- Gab es keine Verurteilung offenkundiger Fehlhandlungen von seiten der beteiligten Parteien, von Fehlhandlungen, die offensichtliche keine solchen waren, sondern vielmehr ein langsames Anwachsen der Sünde und Untreue bei Judas, das sich mit der sündhaften Mentalität der Gesetzgeber und Autoritätsträger des Volkes verband.
Dieses Zusammenwirken bot den Beteiligten, die sich innerlich gestört fühlten, die günstige Gelegenheit, in einem Kompromiss ihrer Unzufriedenheit und ihren selbstsüchtigen Berechnungen Raum zu geben und so gemeinsam ihre sündhaften Motive durch Manipulation und Interpretation auf ihre Umgebung und auf Außenstehende zu übertragen. Diese ließen ihrerseits ihre sündigen und ungeordneten Begierden nach Haben und Sein zusammenströmen im Dienste des Teufels, der den Gottesmord plante.
Nachdem wir in dieser Fastenzeit das Leiden und die Hingabe des Herrn mit größerer Sammlung betrachtet und sie im Geiste wahrer Buße und Sühne in unser Leben aufgenommen haben, wurde uns der tiefe Sinn und hohe Wert des Leidens klarer bewusst; wir haben tiefer eingesehen, wie ernst wir die Selbstverleugnung nehmen müssen, die der Herr von seinen Jüngern und von allen, die ihm nachfolgen wollen, verlangt als eine absolute Bedingung, um ihm näherkommen zu können durch das Licht der Gnade, das sein Leben für uns und alle Menschen in seiner barmherzigen Liebe in sich birgt. Als das Wort des Vaters und als Ausdruck ihrer gegenseitigen Liebe im Heiligen Geist brachte er uns diese barmherzige Liebe als Mittel der Heiligung und des Heiles.
Im Lichte unserer Berufung haben wir in diesen Tagen klarer erkannt, was die ‚drei Pfeiler‘ als Wegweiser zu bedeuten haben, damit wir zu dieser Bekehrung und Fügsamkeit gelangen, die uns fähig machen, dem Herrn zu folgen und seinen Belangen in aufrichtiger und von Herzen kommender Liebe zu dienen, die nichts für sich selbst zurückbehält oder erstrebt, sondern durch Einsatz und wachsames Gebet für viele den Weg bahnen und den Suchenden ein Licht sein will.
Wir sind uns im Klaren darüber, wie viele Irrlichter uns umgeben, wie viele verlockende Einladungen der Welt uns auf Wege des Erfolges führen wollen, wie viele Gefahren uns von allen Seiten umringen und uns heimtückische Kompromisse anbieten, die durch Interpretationen und Manipulationen uns geschickt scheinbar Gutes und Scheintugend vorspiegeln und dem Verrat am Heiligen großzügige Unterstützung versprechen.
Das Gebet, die praktische Übung der Wachsamkeit und Abtötung, die wir uns in dieser Fastenzeit mit größerem Eifer auferlegt haben, gewährten uns eine tiefere Einsicht in das Wesen der Sünde und in ihre Folgen.
Wir sahen sie vom Leiden des Herrn her, von seinem Prozess, seiner Gefangennahme und seiner Verurteilung zum Tode – und auch von den konkreten Situationen her, mit denen wir täglich konfrontiert sind und die uns die Zeichen der Zeit widerspiegeln.
Alle diese Erfahrungen sollen unser Herz öffnen, damit wir
- Unser ‚Heiliges Bündnis‘ besser und treuer im Leben verwirklichen;
- Zeugnis geben von der Osterfreude in der Kraft der Gnaden, die wir in solch überfließendem Maße empfangen durften.
Es sei uns eine heilige Pflicht, diese Freude über unsere Auferstehung im Herrn Jesus, unserem Erlöser und Heiland, wie Sonnenlicht auszustrahlen, damit er von den Menschen besser erkannt und mehr geliebt werde und damit in unserer Welt und unter unseren Zeitgenossen weniger Leid und Dunkelheit herrsche.
Julia Verhaeghe in der Passionswoche 1975
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