Mit der Hilfe von Freunden und durch Aufklärungsbroschüren über Sekten, erkannten wir Stück für Stück uns selbst im Gehörten und Gelesenen wieder. Vor allem das, was wir über Sekten lasen, beschrieb völlig die Situation, in die wir selbst geraten waren. Das Verhalten von allerlei Gründern und Gurus obskurer Gruppierungen glich haargenau dem Verhalten Verhaeghes. Was jene den Mitgliedern ihrer Sekten angetan hatten, war auch uns angetan worden. Wir waren bestürzt über diese Übereinstimmungen. Das Werk war also in Wirklichkeit nicht mit einem Orden oder einer geistlichen Gemeinschaft zu vergleichen, sondern eher mit einem Geheimbund, einer Sekte.
Wir hatten alle geglaubt, wir wären in eine gute Gemeinschaft eingetreten. Wir wollten wirklich mit unserem ganzen Leben Christus und der Kirche dienen, vor allem Menschen in Not und familiären Sorgen. Wir wollten unseren Glauben vertiefen und uns formen lassen. Nach und nach begriffen wir nun, dass wir missbraucht worden waren, dass wir bei einer Frau gelandet waren, die Rache an der Gesellschaft nehmen wollte, an einer Gesellschaft, von der sie sich von Jugend an gedemütigt gefühlt hatte. Ihre Opfer wählte sie selbst aus. Das waren wir. Wir erkannten in unseren Geschichten, dass diese Frau ihre eigenen Minderwertigkeitsgefühle am Idealismus junger Menschen ausgelassen hat. Wir hatten geglaubt, dass wir durch die Formung in unserer Berufung reifen sollten und wussten nicht, dass es ihre Absicht war, uns zu infantilisieren. Sie brachte es fertig, unseren Willen zu brechen, immer wieder von neuem, bis wir wie Schafe allen ihren Grillen folgten. Wir bekamen keine Ausbildung, sondern wir wurden dressiert. Zum Beispiel mussten wir putzen, wenn eigentlich „geistliche Formung“ auf dem Programm stand, weil wir ja die hohe geistliche Begnadigung von „Mutter“ ohnehin nicht verstehen konnten.
Für ihre besonders Vetrauten hatte sie sich ein besonderes Szenario ausgedacht: sie hatte für sie einen „Geheimplan“ entworfen. Jeder dachte, dass er der einzige war, der diesen „Geheimplan“ kennen durfte. „Mutter“ erzählte uns, dass sie die einzig Auserwählte war, die mit ihrer „kleinen Herde“ die Kirche vor dem Untergang retten sollte. Immer wieder baute sie auch eine große Weltkatastrophe in ihre Erzählung ein. Ihr zufolge war die heutige Kirche auf Abwege geraten. Sie müsste erst von Innen heraus vernichtet werden, um dann wieder ganz neu aufgebaut werden zu können. Dafür opfere sie ihr Leben auf. Darum müsse sie so viel leiden. Erst jetzt vielen uns die Schuppen von den Augen: Diese ganzen mystischen Leidens-Szenen – waren das hysterische Anfälle? Oder konnte sie vielleicht einfach nur gut so tun „als ob“?
Nun wurde uns auch klar, dass „Mutter“ zwar die ganze Zeit von ihren Opfern für ihr Werk und ihre Mitglieder gesprochen hatte, dass es in Wirklichkeit aber wir selbst gewesen waren, die die Opfer gebracht und das Leiden ertragen hatten. Wir mussten die Erniedrigungen ertragen, körperlich und geistig. Jeder von uns erinnerte sich an „Mutters“ Verhalten: sie selbst brauchte immer neue "Kicks", um liebenswürdig bleiben zu können.
Uns alle bewegte dieselbe Frage: Warum wollte Julia Verhaeghe die von ihr ausgewählten jungen Menschen immer um sich haben? Sie verstand es, ihre Worte sorgfältig zu wählen, wenn sie uns ihre „Geheimnisse“ anvertraute. Wir waren wirklich davon überzeugt, dass sie eine schwere Last zu tragen hatte. Nun wissen wir, dass es ein gut inszeniertes Schauspiel war. Sie wollte einfach eine Art Geheimclub gründen, ohne selbst für die Menschen, die sie in ihre Macht gebracht hatte, Verantwortung tragen zu müssen. Jetzt erst begriffen wir, warum sie alle Schriftstücke nur mit dem Buchstaben „M.“ unterschrieb. Jetzt wurde uns erst klar, warum wir Blanko-Unterschriften leisten mussten. So konnte sie ihre Machtgier ausleben. Sie verstand es auch, den Händen von P. Hillewaere kirchliche Vollmacht zu entwinden, sie war raffiniert dabei. Er musste – von ihr aus – jedem Mitglied einschärfen, dass es „Mutter“, und allein ihr, Gehorsam schuldig war. P. Hillewaere war selbst auf sie hereingefallen. Er kannte ihre Beweggründe nicht.
Erst jetzt verstanden wir auch den infantilen Charakter, der bezeichnend war für die Symbolik der Gemeinschaft. Ihr erstes Symbol war die Rose. Später war es die Lilie, danach die Dornenkrone, und noch später kamen die biblischen Namen dazu, die sie den Häusern der Gemeinschaft gab. Derlei Dinge ersetzten die vermeintlich so schwierigen Stunden geistlicher Formung, die Verhaeghes Meinung nach viel zu schwer für uns waren. Wir sollten deshalb auch nicht studieren, sondern arbeiten. Und wir waren selbst schuld daran, dass wir nicht studieren durften, weil wir einfach zu dumm dafür waren. Dabei hatten die meisten von uns vor dem Eintritt erfolgreich studiert.
Wir erkannten auch, dass sie uns dazu gebracht hatte, uns selber und v.a. unseren Körper zu verachten. Wenn wir wenig aßen und abmagerten war das ein Zeichen dafür, dass wir auf einem guten Weg waren. Krank wurde man einfach nicht. Krankheiten kamen aus der Lauheit oder es waren Versuchungen. Einen Arzt aufzusuchen wäre „weltlich“ gewesen. Stattdessen war ein Tee mit Kräutern aus dem Garten völlig ausreichend. „Mutter“ selbst nahm dagegen regelmäßig die teuerste Alternativmedizin in Anspruch. Der Preis spielte dabei keine Rolle. Das wussten aber nur die, die ihr besonders nah waren, und sie waren davon überzeugt, dass das gerechtfertigt war, weil „Mutter“ ja so schrecklich leiden musste...
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