Im August 1968 wurde
ich ernsthaft krank. Sechzehn Jahre lang war ich damals Mitglied des Werkes
gewesen und hatte mich voller Idealismus für die Gemeinschaft eingesetzt. Ein
Gespräch mit dem Hausarzt meiner Eltern machte mir klar, dass ich mein Leben „radikal
ändern“ müsste; „so kann es nicht weitergehen“. Das zielte eindeutig in
Richtung des Instituts, dem ich angehörte. Etwas in mir rief mich zur Vernunft
und brachte mich zu mir selbst zurück. Ich hatte so vieles ertragen: Warum? Für
wen? Ich war ausgenutzt worden und durfte nicht mehr ich selbst sein. Es dürfte
mich gar nicht mehr geben. Ich hatte so sehr gelitten, weil meiner
Persönlichkeit und meiner Wahrnehmung Gewalt angetan worden war.
Es kostete viel Mut, da
herauszutreten, aber eines Tages konnte ich einfach nicht mehr in die
Gemeinschaft zurück. Dazu kam, dass ich „unter den Jungen“ nicht mehr erwünscht
war. Von Myriam v.I. aus sollte ich mir eine Arbeitsstelle suchen gehen,
unterdessen hatte Gabrielle S., ein anderes Mitglied der Gemeinschaft, alle
meine persönlichen Dinge weggenommen. Mit Schadenfreude sahen sie dabei zu, wie
ich nun ohne irgendetwas wieder von vorne beginnen musste. Ich war damals 40
Jahre alt. Ihre Machtgier stieß mich ab.
In der Gemeinschaft war
es damals sehr wichtig, dass man Geld verdiente. Ich war zu diesem Zeitpunkt
aber gesundheitlich schon sehr angeschlagen. Jedes Mal, wenn ich meiner
Verantwortlichen meine Situation erklären wollte, tat sie so, als würde sie
mich nicht verstehen. Schließlich fand ich Arbeit in einer Pfarrei und konnte
meine Adresse ändern. Trotzdem verfolgten sie mich: das wenige Geld, das ich
verdiente, passte ihnen nicht.
Nun hatte ich auch nach
all den Jahren endlich wieder Kontakt zu meinen Eltern aufgenommen. Sie nahmen
mich sehr gut auf. Mein Bruder weniger. Auch Kontakt zu Freunden von früher
aufzubauen war nicht einfach. Sechzehn Jahre waren vergangen – ich gehörte
nirgendwo mehr dazu. Unheimlich war das. Meine Freunde von früher sagten nun,
sie hätten es immer schon gewusst, dass mit der Gemeinschaft etwas nicht in
Ordnung war. Aber niemand hatte sich getraut, mir etwas zu sagen. Jeder hatte
sich anscheinend in der Nähe der „Schwestern“ unwohl gefühlt. Aber niemand hat
es gewagt, mit meinen Eltern darüber zu sprechen. Aber alles in allem, war ich
nun wieder daheim – und das war eine echte Befreiung für mich.
Die ganzen Jahre hatte
ich außerhalb der Gesellschaft gelebt. Ich hatte für mich selbst kein Geld
verdient, das hieß: ich hatte nicht „gearbeitet“. Also hatte ich keinen
Rentenanspruch aus diesen Arbeitsjahren... Anfangs, gerade wieder in Freiheit,
ertappte ich mich ständig dabei, dass ich Furcht hatte, das Leben zu genießen.
Genuss durfte nicht sein. Ich musste sozusagen erst wieder laufen und sprechen
lernen und erst einmal überhaupt wieder den Mut finden, mich auf die Straße
hinaus zu wagen. Alles war so anders. Ich kann kaum ausdrücken, was es für mich
bedeutete, wieder „dazuzugehören“. Früher waren alle Kontakte verboten gewesen.
Mit niemandem durfte man über sich selbst sprechen, außer mit dem Oberen. Jedes
Gespräch musste einen Zweck für das „Werk“ erfüllen. Es dauerte zwei Jahre,
bevor die Dinge für mich wieder ihre „Farbe“ zurückbekamen. Zuvor hatte ich
alles nur grau gesehen. Mein Leben durfte keinen persönlichen Anstrich haben,
gezwungenermaßen. Dieser Zwang musste erst von mir abfallen, bevor ich wieder
auf die Straße gehen konnte, ohne zuvor um Erlaubnis zu fragen. Uns war
eingebläut worden, dass allein Gehorsam zu wahrer Freiheit führt. Außerdem
lebten wir die ganze Zeit beraubt von Nachrichten aus der Welt. Die
Fernsehprogramme schienen aus einer anderen Welt zu kommen, dabei war ich es,
die aus einer anderen Welt kam.
Damals dachte ich nach
und stellte mir selbst viele Fragen. Meine Erfahrungen waren nicht einzigartig.
Wo waren die anderen Ex-Mitglieder? Wir haben ja nie erfahren, wohin andere
Mitglieder gingen. Zwar wurde uns gesagt, dass der ein oder andere in ein
anderes Haus versetzt wurde, von den Betroffenen persönlich hörte ich aber
niemals etwas. Was hatten sie den anderen über mich erzählt? Wo dachten sie,
dass ich nun wäre? Es mochte sein, dass jetzt hier oder dort vielleicht eine
frühere Mitschwester saß, bei dem Gedanken wurde mir mulmig zumute. Ich hatte
Arbeit gefunden, im sozialen Bereich, nachdem ich einige andere Arbeitsfelder
durchprobiert hatte. Ich stand auf eigenen Beinen. Aber die anderen ließen mich
nicht los.
Ich erinnere mich gut,
dass ich einmal an einem Himmelfahrtstag – als ich noch im Werk war – sechs
Stunden lang von einem Visitator aus dem Bistum Namen-Luxemburg befragt wurde.
Er fragte mich, was ich von den Manipulationen im Werk wusste. Es waren tausend
Fragen. Damals hatten einige Mitglieder unter sehr schweren Umständen die
Gemeinschaft verlassen. Sie hatten im Bistum Doornik eine Klage eingereicht.
Das war 1963-64. Erzbischof Himmer von Doornik beschloss, eine Untersuchung
einzuleiten und einen Visitator zu ernennen, der alle Mitglieder des Werkes
befragen sollte. Ich vermute, dass nur sehr wenige im Werk wirklich wussten,
was das Werk eigentlich war. Als wir befragt werden sollten, sagte uns unsere
Verantwortliche, es wäre eine Prüfung. Nach dem Gespräch mit dem Visitator
wurden wir noch strenger als sonst von den Verantwortlichen im Zaum gehalten.
Für die allermeisten Mitglieder war es ganz unmöglich, dem Visitator das zu
erzählen, was sie selbst erfahren hatten. Man ist so eingeschnürt, dass es
einfach unmöglich ist, irgendetwas über sein eigenes verdrängtes Leben zu
sagen. Die Untersuchung brachte also nichts zutage, weil im Vorhinein schon
diktiert worden war, was wir sagen sollten.
Der Gedanke ließ mich
nicht los, ich könnte – jetzt wo ich draußen war – frühere Mitschwestern
wiederfinden. Und ich fand sie: eine, zwei, wieder eine... bis wir eine Gruppe
waren, die bezeugen konnte, was uns allen angetan worden war und wie es uns
damit nach wie vor geht. Das verarbeitet man nämlich nicht so schnell. Bis 1990
taten wir nichts weiter, als uns unsere Geschichten zu erzählen. Dann spürte
ich, dass es allerhöchste Zeit war, etwas zu schreiben.
Die Verschiedenheit der
Geschichten und Visionen aller Ex-Mitglieder war erstaunlich. Wir hatten zwar
alle dasselbe erlebt. Zugleich hatte aber jeder gleichsam in einer anderen Welt
gelebt. Wir wussten nichts von einander, kannten die Persönlichkeit der anderen
nicht, obwohl wir uns jeden Tag gesehen hatten. Jeder war voller Schuldgefühle
durchs Leben gegangen und hatte mit einer unerklärlichen Angst gekämpft. Es war
spürbar, dass die Gehirnwäsche-Methoden Spuren in unserer Psyche hinterlassen
hatte. Die Reaktionen aus Familie und Bekanntenkreis verhehlten uns das auch
nicht. Überall stießen wir auf Unglauben. Niemand glaubte unsere Geschichten
über das, was wir mitgemacht hatten. Wir hörten immer nur, dass wir doch sehr
naiv gewesen sein mussten. Niemand konnte uns verstehen. Wir fühlten uns unverstanden,
schutz- und hilflos. Wir konnten uns nirgendwo hin wenden. Wir wussten aber,
dass das Werk uns Unrecht angetan hatte. Das ließ uns nicht los. Wir hatten
Hoffnung, wollten uns einsetzen für die Opfer des Werkes in Gegenwart und
Zukunft. Zumindest wir konnten verstehen, was jemand, der da „herauskam“,
mitgemacht hatte und wie sie sich fühlte.
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